Bahnhofstraße


Pfalzbayerische Landstadt
Mit der Schaffung der „Bayerischen Rheinpfalz“ 1816 wurde Kirchheimbolanden eine Landstadt, deren Einwohnerzahl dann bis 1918 von 2.500 auf 3.600 anwuchs. Das war eine Zunahme von etwa 40 %.
In der gesamten Pfalz lag das Wachstum bei rund 108 %. Kirchheimbolanden wuchs also nur unterdurchschnittlich. Einen stärkeren Schub brachte erst der Anschluss an das Eisenbahnnetz 1874.
Ein „Reise-Handbuch durch alle Theile der Königlich-bayerischen Rheinpfalz,“ 1841 in Zweibrücken erschienen, schildert die Stadt als recht heiter und belebt. Sie hat eine ziemlich gerade und breite Hauptstraße, die übrigen Gassen jedoch sind meist eng und ungeregelt, wozu auch die etwas unebene Lage am Fuß der Anhöhe beiträgt. Es finden sich manche recht hübsche Häuser.
Der „Führer durch den pfälzischen Luftkurort“ von 1905 setzt dann ganz andere Akzente:
Kirchheimbolanden, 250 Meter hoch gelegen, ist Sitz eines Bezirksamtes, eines Amtsgerichtes, eines Forstamtes, eines Rentamtes, zweier Notare, einer Brandversicherungsinspektion, einer Messungsbehörde und einer Steueroberkontrolle, besitzt eine katholische und zwei protestantische Kirchen, eine Synagoge, ein Progymnasium, eine Präparandenschule, eine städtische höhere Töchterschule, eine landwirtschaftliche Winterschule, zwei politische Zeitungen, eine große Schuhfabrik und eine bedeutende Wagenfabrik, eine Wasserleitung und eine Gasanstalt. Außerdem sind 3 Aerzte und 2 Apotheken vorhanden.
Es sind dies aber nicht die einzigen Superlative, die 1905 genannt wurden. Hingewiesen wird auch besonders auf das Kurhaus auf dem Schillerhain, auf einer Anhöhe (351 m hoch) gelegen, etwa 20 Minuten von der Stadt entfernt. Neuerbaute, stattliche Villa in
einer schönen, schattigen Anlage, unmittelbar am Walde, mit herrlicher Aussicht nach dem Rheine und Odenwald sowie nach dem Donnersberg. Komfortabel eingerichtetes und musterhaft geleitetes Haus. Preis der Zimmer je nach Wahl von 1 bis 2,50 Mk.; Pensionspreis der Beköstigung pro Tag 3.50 Mk.

Kaiserzeitlicher Flair
Bahnhöfe waren in der Kaiserzeit, wenn sie außerhalb des damaligen Wohngebietes errichtet wurden, attraktive Zielpunkte städtebaulichen Wachstums, so auch in Kirchheimbolanden. Hier wurde die Vorstadt verlängert und an ihrem nunmehrigen Ende rechtwinklig die Bahnhofstraße abgezweigt.
Das hatte eine umfangreiche Bautätigkeit zur Folge. Der Bahnhof war 1874 in spätklassizistischer Formsprache als Station an der Linie Mainz-Alzey-Marnheim-Kaiserslautern in Dienst gestellt worden. Daneben eröffnete ein Hotel.
Die in der Bahnhofstraße errichteten stadtvillenartigen Anwesen strahlen ein typisches kaiserzeitliches Ambiente aus. Dazu tragen insbesondere Staatsbauten bei, vor allem das 1914/15 errichtete „Königlich Bayrische Bezirksamt“ (bis 1982 Landratsamt, Bahnhofstr. 17). Gegenüber (Vorstadt 41) bestand schon seit 1907 das Postamt. Bereits 1925 wurde die Post dann aber in die untere Bahnhofstraße (Bahnhofstr. 7) verlegt und in das bisherige Postamt zog die Sparkasse ein. Ihr spätgründerzeitliches Gebäude bestand allerdings nur bis in die 1970er Jahre. Dann erfolgte ein zeitgemäßer Neubau.
Erhalten blieb dagegen das 1893 mit neubarocker Fassade errichtete ehemalige „Königlich Bayrische Rentamt“ (Finanzamt, Vorstadt 48, seit 1986 Polizeiinspektion) als baulich repräsentatives „Gegenstück“ zum Bahnhof.
Der kaiserzeitliche Besuch, der damals mit der Bahn anreiste, mag deshalb beim Eintritt in die Stadt so recht eingestimmt gewesen sein: Durch eine Allee [die Bahnhofstraße] gehen wir zur Kaiserstraße [heute Marnheimer Straße]. Der Weg führt dann weiter durch die Vorstadt in das Zentrum. An vielen Orten gewahrt man (dabei) mit Wohlgefallen die Spuren der ehemaligen Residenz und ebenso auch die eindrucksvollen baulichen Zeugnisse des Mittelalters. So der „Führer durch den pfälzischen Luftkurort Kirchheimbolanden“ von 1905.
Wie er damals in der Kaiserzeit, so waren hoffentlich auch wir mit den heutigen informationellen Mitteln ein hilfreicher Wegbegleiter durch das mittelalterliche, barocke und pfalzbayerische Kirchheimbolanden.

Kaiserzeitlicher Flair
Die Gesellschaft der Kaiserzeit war höchst dynamisch. Industrialisierung und Verstädterung veränderten die Arbeitswelt und die Lebensgewohnheiten. Das zeigt sich nicht nur in den Großstädten, sondern ebenso in den vielen kleinen Landstädten.
Zum Bindeglied wurde dabei der „Bürgergeist“. Er drückte sich vor allem in der Wohnkultur und einem gesellschaftlichen Bewusstsein aus, der bei gegebenen privaten finanziellen Möglichkeiten als Engagement vor allem für caritative, religiöse beziehungsweise soziale Zwecke auch städtebauliche Akzente setzte.
Auch im kaiserzeitlichen Kirchheimbolanden ist dies an vielen Stellen spürbar. Namen wie Franz Josef Pilgeram, Carl Glaser und Heinrich von Brunck stehen dafür ebenso wie unter anderem der der Familie Wolff.
Der 1905 erschienene „Führer durch den Luftkurort Kirchheimbolanden“ hebt das Wolff`sche Stiftungsengagement mit einem jugendstilumrahmten Foto ganz besonders hervor.
Denn in der Vorstadt, so die damalige Stadtrouten-Beschreibung, gewahren wir das Wolffstift, einen ansehnlichen Bau, den Frau Rentamtmann Wolff dem pfälzischen Diakonissen-Verein vermacht hat, der als Erholungsheim für ruhebedürftige Schwestern benützt wird.
Heute ist dieses „Erholungsheim“ mit seiner Parkanlage (Vorstadt 32/34) ein weitläufiges „Seniorenzentrum“, das ganz im Sinne bürgerschaftlichen Stiftungsengagements der „Frau Rentamtmann“ als „Wolffstift“ firmiert.

Kaiserzeitliche Industrialisierung
Die kaiserzeitliche Industrialisierung hat sich im späten 19. Jahrhundert auch im Stadtbild Kirchheimbolandens niedergeschlagen. Noch gab es allerdings in der inzwischen 3.000 Einwohner-Stadt laut der Gewerbezählung von 1888 lediglich sieben „Fabriken und gewerbliche Anlagen“, darunter als größte die Schuhfabrik Coblitz und Waltgenbach mit 172 Beschäftigten.
Ihr 1906 neu errichtetes Fabrikgebäude in der Vorstadt 40 ist ein vierstöckiges, 36 zu 5 Fensterachsen zählendes repräsentatives Industriegebäude, in dem heute mit einem weltweiten Absatzmarkt Sicherheitsschuhe hergestellt werden.
Eine weitere „Fabrik und gewerbliche Anlage“ hatte in der Kaiserzeit schräg gegenüber in der Vorstadt 27 ihren Sitz, die Buchbinderei und Papierwarenfabrik Ruff.
In dem Ende des 19. Jahrhunderts errichteten „großvolumigen Putzbau“ mit historisierender Fassadengliederung zog 1921 die 1862 als Handwerker- und Vorschußverein gegründete Volksbank ein, die heute im Dienstleistungszentrum in der Uhlandstraße ihr Bankgebäude hat.
Kirchheimbolanden war damit um 1900 trotz seiner pfälzischen Randlage zur 5 Kilometer entfernten Königlich-bayerisch–Großherzoglich-hessen-darmstädtischen Landesgrenze auf einem hoffnungsvollen wirtschaftlichen Entwicklungsweg.

